Meine Wirklichkeit schützt mich

Ich bin Fatima Freitag. Eine facettenreiche Person, die schon als kleines Kind eine Menge Veränderungen im Leben durchgemacht hat. Kennst Du das, wenn Du als Erwachsener merkst, dass Dich die Vergangenheit einholt und Dich Dinge im Alltag herausfordern oder gar blockieren?

Manche Lebensphasen könnte ich mir schenken!

In der Tat…was wir Menschen alles als unsere Wirklichkeit definieren…Im Grunde ganz natürlich, normal und zugleich herausfordernd, denn unsere Wirklichkeit hilft uns, dass wir uns in unserem Umfeld zurechtfinden und manchmal beschützt sie uns im richtigen Moment vor äusserst traumatischen Ereignissen.

Ich wuchs ab 1985 in einem spanischen Umfeld auf und hatte einen Haufen britische Nachbarn. Zuhause redeten wir Ostschweizer Dialekt, in der Schule Spanisch oder Katalanisch und im privaten Rahmen hauptsächlich britisches Englisch. Mich anzupassen gehörte früh zu meinem Alltag und ich fand mich damals wunderbar damit zurecht: An Weihnachten gab es bei den Nachbarn englischen Pudding, bei den Freunden der Schule machte ich im Dorf an Paella-Wettbewerben mit, mein Geschichtslehrer war von der katalanischen Sprache absorbiert und Zuhause waren mein Grosi und Mami, die weiterhin die Ostschweizer-Kultur vorlebten. Als Kind ist man besonders resilient und wird mit aller Natürlichkeit mit diesem Umfeld gross. Aber irgendwann zog ich als Teenager 1995 zurück in die Schweiz. Ich bemerkte rasch, dass ich in meinem eigenen Herkunftsland fremd war und ich im Grunde keine Ahnung von der Confederatio Helvetica hatte. Erneut war ich einer Kultur fremd. Weitere Anpassungen waren notwendig. Ich war auf mich selbst gestellt und hatte lediglich meinen inneren Kompass. Instinkt, gesunder Menschenverstand und Vieles mehr trugen mich durch den Alltag. Selbstverständlich hatte ich mir als Optimistin eine schöne Welt erschaffen. Eine, in der ich mich als Fatima glücklich schätzen durfte. Meine ganz persönliche Wirklichkeit sah im Grossen und Ganzen ziemlich gut aus.

Unbewusst und instinktiv handeln wir Tag ein und Tag aus. Wir bekommen Eindrücke, verarbeiten diese, übernehmen teilweise Schemen, die wir als passend empfinden und grenzen aus, was in dem Moment nicht in unser Wertesystem passt – so werden wir zu dem erwachsenen Individuum, das wir aktuell sind. Im Kindesalter machen wir dies unbewusst und im Erwachsenenalter haben wir die Kapazität uns bewusst Dinge anzueignen oder bestimmte Verhaltensweisen abzuweisen – einerseits ist da die Gesellschaft, die einem kulturelle Wertesysteme vermittelt. Dann ist da die Familie, die einem eine bestimmte Kultur vorlebt und dann sind da die Freunde oder gar Lehrer, die alle eine frappante Rolle in unserem Leben spielen. All dies formt unser Wesen. Gewisse Verhaltensweisen stecken in mir drin, andere habe ich von anderen übernommen.

Every person’s mental programming is partly unique, partly shared with others

Geert Hofstede, Soziologe

Fatima, wer bist Du?

Meine Grossmutter kam im 2. Weltkrieg von Deutschland nach St. Gallen. Sie sprach kaum Hochdeutsch mit mir und verdrängte in frühen Zeiten bereits ihre alemannische Identität. Die Scham zur deutschen Kultur zu gehören war ausserordentlich gross. Man kann sich gut vorstellen, dass ihre 3 Töchter, darunter auch meine Mutter, gar wenig Halt oder Sicherheit vermittelt bekamen, wenn es um Stolz und Identität ging.

Mein Vater stammt aus Nordafrika und lernte meine Mutter im konservativen St. Gallen der 70er-Jahren kennen. Er hatte in der Grossstadt stark mit seinem Selbstwert zu kämpfen und die Auseinandersetzung mit einer weiteren Kultur war für ihn eine immense Überforderung. Wie man sich sehr gut vorstellen kann, hielt die Beziehung zu meiner Mutter nicht lange. Die Scheidung liess seine Unzufriedenheit eskalieren. Aggression, Wut und Tyrannei waren für mich mit dem Alltag, zusammen mit meinem Vater, verbunden, weshalb meine Mutter aktiv Schutz in Anspruch nehmen musste. Über die Jahre wurde ich als Kleinkind bei diversen Pflegefamilien untergebracht, da man mich vor meinem Vater verstecken musste. Wenn ich zurückdenke, gibt es da brockenweise Erinnerungen. Teilweise positive oder eben auch unangenehme Sachen, da ich mich stets auf neue Menschen einlassen durfte. Sowas gehört nicht in ein Curriculum eines Kindes, aber in jungen Jahren packt man eben einiges, denn Resilienz soll geübt werden. Im Erwachsenenalter gibt es früher oder später viel aufzuarbeiten. Der Grund dafür ist, dass wir einiges unbewusst prozessieren.

Man versteht gerade nicht woher das alles kommt und ist überwältigt. Das Unbewusstsein zeigt uns immer wieder, was gerade für Gefühle in einzelnen Momenten, bzw. im Alltag im Spiel sind. Besagtes Unterbewusstsein ist die Summe aller Vorstellungen, Erinnerungen, Eindrücke, Motive, Einstellungen und Handlungsbereitschaften, die in uns sind, die aber zur Zeit nicht aktiv sind. Alles was im Moment aktiv ist, ist uns bewusst. Unterbewusst spielen aber all die inaktiven Elemente unserer Psyche in unser tägliches Tun und Denken.

Quelle: Zeitzuleben

Never lose hope, storms make people stronger and never last forever

Roy T. Benett

Wenn ich als Fatima und heutzutage als Fachperson über dieses Kapitel meines Lebens reflektiere, dann komme ich zu folgendem Schluss:

Ich habe als Mensch keine Wahl darüber, wo ich hineingeboren werde und versuche bestmöglichst mit dem voranzukommen, was mir gegeben wird.

Jammern bringt mir nichts. Die Vergangenheit ist geschrieben, aber ich kann lernen damit umzugehen. Ich bin aber durchaus fähig und in der Lage, das Hier und Jetzt jederzeit – und falls der Wille vorhandne ist – zu verändern.

Ich suche keine Schuldige für meine damalige Entwicklung, denn ich bin erwachsen und bestimme nun selbst darüber, was ich tue und lasse.

Es gibt am Ende auch positive Aspekte dieser Geschichte und diesen gebe ich den Vortritt und zelebriere sie.

Viele Wege führen zum Ziel, auch wenn der Pfad manchmal sehr dunkel und unbegehbar erscheint. Wenn ich motiviert bin an meiner Situation etwas zu verändern, dann bin ich auch bereit für die Lösung.

Lösungen zu erarbeiten habe ich persönlich als erleichternd erlebt. Sich Unterstützung zu holen, weil man bestimmte Phasen im Leben als herausfordernd erlebt, ist absolut in Ordnung. Probleme lösen sich leider nicht in Luft auf, sondern drängen sich über die Zeit immer mehr auf. Den Blick auf das aktuelle Ereignis zu richten und dies phasenweise anzugehen, schafft Platz für Neues.